Stillen fördern

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ABM Clinical Protocol #33: Lactation Care for Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Queer, Questioning, Plus Patients
Rita Lynne Ferri, Casey Braitsch Rosen-Carole, Jason Jackson, Elizabeth Carreno-Rijo, Katherine Blumoff Greenberg, and the Academy of Breastfeeding Medicine.Breastfeeding Medicine. May 2020.284-293. DOI: https://doi.org/10.1089/bfm.2020.29152.rlf
Das Bewusstsein für die Komplexität verschiedener sexueller Orientierungen und Geschlechtsidentitäten von Menschen ist in den vergangenen Jahren gewachsen. Die einfache Unterteilung zwischen Mann und Frau (von Geburt an "bestimmt" durch die äußeren Geschlechtsmerkmale) bildet nur einen Teil der Wirklichkeit ab, in der sich Menschen selbst verorten und miteinander in Beziehungen begeben. Veränderte Blickwinkel und ein differenziertes Verständnis von komplexen menschlichen Verhaltensweisen benötigen eine Möglichkeit, diese sprachlich ausdrücken zu können, was zu einer Anzahl an neuen Begriffen geführt hat, die wir kennen sollten:
Noch bis vor kurzem herrschte in den meisten Regionen der Welt der Zwang, eindeutig einem der beiden binären Geschlechter "Mann" oder "Frau" zugeordnet zu werden und es wurde erwartet, sich in dieser Zuordnung auch wohl zu fühlen (cisgender = eine Person, bei der das innere Erleben und die äußeren Geschlechtsmerkmale sowie die automatische Zuordnung bei Geburt "passend" zueinander scheinen und ohne innere Brüche übereinstimmen).
Die gesellschaftliche Erwartung war zudem, dass man sich sexuell vom jeweilig anderen Geschlecht angezogen fühlt (Heteronormativität = die Annahme, dass jede Person, der man begegnet oder über die man etwas erfährt, heterosexuell ist).
In der Zwischenzeit ist es hingegen in vielen Ländern möglich, sowohl eine Geschlechtsidentität außerhalb der beiden binären Optionen zu wählen (nicht-binäre Person, im Deutschen meist verwendet: divers oder intersexuell) als auch selbstverständlich Liebesbeziehungen zwischen Menschen desselben Geschlechts zu führen (Homosexualität).
Menschen, bei denen ihr inneres Erleben nicht mit dem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt und die sich entschließen, dem in irgendeiner Form Ausdruck zu geben, werden als transgender bezeichnet. Dies kann bedeuten, dass sie sich äußerlich in Form von Kleidung oder Frisur an das ihnen innerlich entsprechende Geschlecht angleichen und/oder dass sie sich zu körperlichen Anpassungen entschließen (Einnahme von Hormonen, geschlechtsangleichende Operationen). Dies ist jedoch keine zwingende Gegebenheit - Menschen können sehr unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was ihre persönliche Geschlechtsidentität bestimmt und welche äußeren Merkmale sie verändern oder beibehalten wollen.
Häufig erleben Transgender-Personen vor ihrer Entscheidung für äußere Veränderungen eine, teilweise Jahre oder Jahrzehnte dauernde, Phase der Dysphorie, eines Zustands der Unzufriedenheit und tiefer Zerrissenheit, der häufig mit Depressionen, selbstverletzendem Verhalten und einer erhöhten Suizidalität einhergeht.
Menschen, die sich außerhalb der traditionellen binären Geschlechtszuordnung verorten und/oder eine von der Heterosexualität abweichende sexuelle Orientierung haben, verwenden als Sammelbezeichnung für sich häufig die aus dem englischen Sprachraum stammende Abkürzung LGBTQ+ (für Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Queer and Plus).
Diese Entwicklung bedeutet nicht nur für den privaten oder kollegialen Umgang miteinander eine Veränderung, sondern auch für den professionellen Umgang mit Patient*innen und Klient*innen im Gesundheitswesen. Für Menschen aus dem LGBTQ+-Spektrum ist es häufig mit schmerzlichen Erfahrungen verbunden, von medizinischen Fachkräften in ihren besonderen Bedürfnissen und ihrer Komplexität ignoriert oder konsequent auf ihre äußere Biologie reduziert zu werden. Dies birgt das Risiko, dass Menschen aus dem LGBTQ+-Spektrum sich gegenüber medizinischen Fachkräften nicht frei äußern, Beschwerden nicht vortragen oder dabei nicht ernst genommen werden und letztlich deshalb z.B. zu spät diagnostiziert werden.
Ein Trans-Mann, der sich entscheidet, schwanger zu werden, weil er Ovarien, eine Gebärmutter und eine Vagina besitzt, wird in manchen Einrichtungen konsequent als "Frau" betrachtet und behandelt, was eine Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte darstellt. Eine lesbische Frau, die im Kreißsaal beständig auf ihren Mann/Partner angesprochen wird, während ihre anwesende Lebensgefährtin als bloße "Freundin" oder "Schwester" wahrgenommen wird, wird in ihrer Individualität ignoriert und wird sich nicht vertrauensvoll öffnen können.
Die Academy of Breastfeeding Medicine (ABM) gibt mit ihrem Protokoll Nr. 33 Empfehlungen zum Umgang mit Menschen aus dem LGBTQ+-Spektrum im Bereich der Still- und Laktationsberatung. Sie führt in die Thematik ein, ermöglicht medizinischem Fachpersonal, sich mit den veränderten Begriffen und Konzepten auseinanderzusetzen und Berührungsängste abzubauen.
Das Protokoll empfiehlt folgende Herangehensweisen für die Kommunikation mit Personen aus dem LGBTQ+-Spektrum:
Transgender-Personen können verschiedene medizinische Maßnahmen durchführen, um ihr äußeres Geschlecht dem inneren Erleben anzupassen. Diese Maßnahmen können bereits in der frühen Jugend beginnen, indem die Pubertät hormonell unterdrückt wird, um die Reifung der sekundären Geschlechtsmerkmale zu verhindern oder zu verzögern und somit mehr Zeit zu verschaffen für weitere Entscheidungen. Über die spätere Fruchtbarkeit/ Fähigkeit zur Fortpflanzung von Transgender-Personen, die aus diesem Zustand direkt zur Behandlung mit gegengeschlechtlichen Hormonen übergehen, liegen bisher noch keine ausreichenden wissenschaftlichen Daten vor.
Transgender-Personen, die sich dazu entscheiden, die Geschlechtsreife abzuwarten und erst später mit der gegengeschlechtlichen Hormontherapie zu beginnen, sind dadurch dem Risiko ausgesetzt, über einen längeren Zeitraum mit der Dysphorie zu leben. Der Erhalt der Fortpflanzungs-Fähigkeit, z.B. durch Entnahme und Einfrieren von Spermien oder Eizellen, rückt zunehmend ins Bewusstsein der Transgender-Medizin.
Trans-Frauen, die ein Kind stillen möchten, werden bei der induzierten Laktation begleitet. Es gibt bereits einige Fälle, in denen zumindest ein Teil-Stillen dadurch möglich wurde. Brustvergrößernde Operationen können das fehlende Drüsengewebe verschleiern und erhöhen zudem das Risiko für Stauungen (durch Schnittführung, Narbengewebe, Druck des Implantats auf die umliegenden Strukturen).
Die Hormontherapie von Trans-Männern kann zu einer Atrophie des Brustdrüsengewebes führen. Wenn eine Schwangerschaft angestrebt wird, muss die Hormontherapie ausgesetzt werden und falls Stillen gewünscht wird, werden die Hormongaben weiterhin bis zum Abstillen pausiert. Einige Trans-Männer praktizieren außerhalb von Schwangerschaft und Stillzeit Methoden, die das Erscheinungsbild ihrer Brust verringern sollen (festes Hochbinden/ Tragen von Kompressions-Oberteilen). Wenn dies während Schwangerschaft oder Stillzeit fortgesetzt wird, erhöht sich das Risiko für Komplikationen der Brust (Stauungen, Atrophie des Drüsengewebes, verringerte Milchproduktion). Wenn eine operative Brustreduktion oder komplette Mastektomie erfolgt ist, ist das Stillen unter Umständen nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich.
Für die Begleitung von Transgender-Personen als Stillberater*innen, ist es sinnvoll, einige grundlegende Dinge zu beachten:
Paare, bei denen beide Elternteile stillen möchten (Co-Laktation), sollten im Vorfeld genau absprechen, wer z.B. das erste Bonding im Hautkontakt übernimmt und wie die Milchproduktion bei beiden Elternteilen aufgebaut und erhalten werden soll. Kolostrumgabe durch den zuvor schwangeren Elternteil sollte eine hohe Priorität eingeräumt werden. Eltern sollten realistische Erwartungen an Co-Laktation haben, sowohl bezüglich der Milchmenge als auch bezüglich der Arbeitsteilung für andere Aufgaben (Haushalt etc.). Das gesunde Gedeihen des Babys hat immer Vorrang vor allen anderen Bedürfnissen.
Das ABM-Protokoll geht auf weitere Aspekte ein, z.B. auch die Herausforderungen, die LGBTQ+-Eltern erleben, wenn ihr Kind auf einer Intensivstation betreut werden muss oder auf die Optionen bezüglich Frauenmilchspenden/Milchbanken.
Außerdem werden einige Selbsthilfegruppen, mögliche Informationsquellen und -Seiten im Internet und auf Social-Media-Plattformen angesprochen.
Das vollständige Protokoll (englisch) finden Sie → hier.
© Juli 2020, Anja Bier, IBCLC für den Newsletter des Europäischen Instituts für Stillen und Laktation
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