Europäisches Institut für Stillen und Laktation

SIDS-Ursache gefunden? Vorsicht ist geboten

Anlage zum EISL-Newsletter Juni 2022

Butyrylcholinesterase is a potential biomarker for Sudden Infant Death Syndrome
Carmel Therese Harrington, Naz Al Hafid, K. A. Waters; eBioMedicine 2022;80:104041; Mai 2022. DOI: https://doi.org/10.1016/j.ebiom.2022.104041

Das wichtigste in Kürze:

  • SIDS (Sudden Infant Death Syndrome), im Deutschen als "Plötzlicher Kindstod" bezeichnet, ist dank umfangreicher Kampagnen in den vergangenen Jahrzehnten deutlich zurückgegangen und heute in den deutschsprachigen Ländern äußerst selten.
  • Noch immer ist keine eindeutige Ursache identifiziert, aktuell geht man davon aus, dass es sich um ein multifaktorielles Geschehen handelt, bei dem Kinder mit einer vulnerablen Prädisposition gefährdet sind, an zusätzlichen, beeinflussbaren Risikofaktoren zu versterben.
  • Eine Studie erregte jüngst viel Aufmerksamkeit in den Medien, als vermeintlich "die Ursache" für SIDS gefunden wurde. Die Studie selbst behauptet dies jedoch keineswegs, sie liefert vielmehr einen neuen Puzzlestein auf der Suche nach biologischen/genetischen Faktoren, die bestimmte Kinder vulnerabler machen als andere.

Ende Mai 2022 titelten viele Medien mit Überschriften, die Großes versprachen: die Ursache für SIDS, lange gesucht, nie eindeutig gefunden, wäre nun endlich entdeckt. Man könne in Zukunft ganz einfach mit Hilfe eines Screenings ein Neugeborenes daraufhin untersuchen, ob es einem erhöhten Risiko ausgesetzt ist, so suggerierten die Artikel.
Als Fachkräfte wurden wir seither vermehrt von Eltern auf die den Meldungen zugrunde liegende Studie angesprochen. Doch noch ist die Euphorie verfrüht.

Der Butyrylcholinesterase (BChE)-Mangel ist ein Stoffwechseldefekt, den man aus der Anästhesie kennt.
Nach Anwendung einiger bei der Anästhesie verwendeter Medikamente, z.B. der Muskelrelaxantien Succinylcholin oder Mivacurium und gewisser Lokalanästhetika (z.B. Procain), kann es bei Menschen, bei denen dieser Defekt unerkannt vorliegt, zu verlängerter Apnoe kommen. Die Dauer der Apnoe variiert, abhängig vom Ausmaß des Enzymdefekts, erheblich.
Der BChE-Mangel hat erbliche und nicht-erbliche Ursachen. Der genetisch bedingte Mangel, mit Mutationen im BChE-Gen, wird autosomal-rezessiv vererbt.

Nun hat eine kürzlich erschienene australische Studie gezeigt, dass dieser Enzymdefekt auch eine Ursache von SIDS sein könnte:
Butyrylcholinesterase (BChE) ist ein Enzym des cholinergen Systems, eines wichtigen Zweigs des autonomen Nervensystems. Dieses System steuert unsere Vitalfunktionen: Atmung, Herzschlag, Blutdruck, Verdauung und Hormonstoffwechsel. Autonome Funktionsstörungen werden mit der Pathophysiologie des Plötzlichen Kindstods (SIDS) in Verbindung gebracht.

In der aktuellen Studie wurde die BChE-Aktivität bei Säuglingen und Kleinkindern untersucht, die am Plötzlichen Säuglingstod oder am Plötzlichen Unerwarteten Tod gestorben waren.
Die bedingte logistische Regression zeigte, dass in den Gruppen, in denen die Fälle als "SIDS-Todesfall" gemeldet wurden, ein starker Hinweis darauf bestand, dass eine niedrigere BChE-spezifische Aktivität (BChEsa) mit dem Tod assoziiert war.
Möglicherweise ist der Aufwachreflex bei Sauerstoffmangel vermindert.

Wenn sich der Verdacht bestätigen sollte, ist diese Erkenntnis sicher gewinnbringend für künftige Überlegungen, es ändert sich jedoch nichts Grundlegendes an den aktuellen Empfehlungen und der Erklärung für den Tod bestimmter Kinder.

Christoph Bührer, Direktor der Klinik für Neonatologie an der Charitè − Universitätsmedizin Berlin, äußert sich gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt Mitte Juni 2022 so:
Die am weitesten verbreitete Theorie ist das Triple-Risk-Modell. Demnach müssen 3 Faktoren zusammenkommen, damit ein SIDS auftreten kann: ein vulnerabler Säugling, eine kritische Phase der Entwicklung und ein exogener Stressor. Bislang ist der vulnerable Faktor trotz intensiver Forschung nicht bekannt.
Eine mögliche Ursache für die Vulnerabilität der Kinder könnte eine autonome Dysfunktion, etwa des cholinergen Systems, sein. BChE ist ein Enzym dieses Systems und eignet sich daher womöglich als SIDS-Biomarker, vermuten die Forscherinnen.
Aus den vorliegenden Ergebnissen ist jedoch „die Behauptung, die Studie habe einen biochemischen Marker identifizieren können, der an SIDS verstorbene Kinder schon weit vor ihrem Tod von anderen Kindern unterscheiden könne, kaum nachzuvollziehen“, so Bührer. „Inwieweit sich die Werte zwischen SIDS-Fällen und Kontrollen wirklich signifikant unterscheiden, muss offen bleiben.“

Ein weiterer deutschsprachiger Artikel ordnet die Studie wissenschaftlich ein und gibt einen guten Überblick über die Chancen der neuen Erkenntnisse: → NationalGeographic 03.06.2022
Leider sind in den Medien nicht immer alle Zusammenhänge vollständig dargestellt, vor allem die neueren Erkenntnisse zum sicheren gemeinsamen Schlafen und der Bedeutung des Stillens als Schutzfaktor vor SIDS werden dort meist nicht oder nicht ausreichend herausgearbeitet.
Lesen Sie hierzu mehr auf unserer EISL-Fachseite → Sicherer Babyschlaf

Die Studie (englisch) ist vollständig als open access → hier zugänglich.

© Juni 2022, Gudrun von der Ohe, Ärztin und IBCLC
und das EISL-Newsletter-Team:
Anja Bier, IBCLC; Rhiannon Grill, IBCLC; Natalie Groiss, IBCLC; Gabriele Nindl, IBCLC

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