Europäisches Institut für Stillen und Laktation

Rücksichtslose Marketingpraktiken der Formula-Industrie: Artikel-Serie in The Lancet

Anlage zum EISL-Newsletter Februar 2023

Unveiling the predatory tactics of the formula milk industry
The Lancet 2023, Volume 401, Issue 10375, 409. DOI: https://doi.org/10.1016/S0140-6736(23)00118-6
Übersetzung des Titels:
Enthüllung der ausbeuterischen Marketing-Taktiken der Formula-Industrie

Breastfeeding: crucially important, but increasingly challenged in a market-driven world
Pérez-Escamilla, Rafael et al. The Lancet 2023, Volume 401, Issue 10375, 472 - 485. DOI: https://doi.org/10.1016/S0140-6736(22)01932-8
Übersetzung des Titels:
Stillen: von entscheidender Bedeutung, aber zunehmend herausgefordert in einer marktgesteuerten Welt

Marketing of commercial milk formula: a system to capture parents, communities, science, and policy
Rollins, Nigel et al. The Lancet 2023, Volume 401, Issue 10375, 486 - 502. DOI: https://doi.org/10.1016/S0140-6736(22)01931-6
Übersetzung des Titels:
Vermarktung von künstlicher Säuglingsnahrung: ein System, das Eltern, Gemeinden, Wissenschaft und Politik vereinnahmt

The political economy of infant and young child feeding: confronting corporate power, overcoming structural barriers, and accelerating progress
Baker, Phillip et al. The Lancet 2023, Volume 401, Issue 10375, 503 - 524. DOI: https://doi.org/10.1016/S0140-6736(22)01933-X
Übersetzung des Titels:
Die politische Ökonomie der Säuglings- und Kleinkindernährung: Konfrontation mit der Macht der Konzerne, Überwinden von strukturellen Barrieren und Beschleunigung des Fortschritts

Das wichtigste in Kürze:

  • Weltweit werden noch immer über die Hälfte der Babys nicht nach den WHO-Empfehlungen gestillt, trotz der überwältigenden Evidenz zu den positiven Auswirkungen auf die Entwicklung und Gesundheit von Mutter und Kind sowie die Bedeutung für die Gesellschaft.
  • Die Hersteller von Säuglingsnahrung beherrschen einen Milliarden-Markt, der trotz jahrzehntelanger Bemühungen nur wenig durch Regierungen und Gesetzgebung reguliert wird. Seit der Verabschiedung des → WHO-Kodex im Jahr 1981 haben nur 32 Länder gesetzliche Regelungen implementiert, die den Kodex vollständig abdecken.
  • Auch dort, wo Gesetzgebung bestimmte Praktiken untersagt, unterlaufen viele Hersteller durch "Schlupflöcher" und subtile Botschaften an junge Familien faktisch das Werbeverbot. Die globale Vernetzung und aggressive Werbung über Social Media trägt zudem dazu bei, dass junge Familien einer Vielzahl von Werbebotschaften der Formula-Industrie ausgesetzt sind, ohne dass eine gesetzliche Regulierung greifen könnte.

Obwohl Stillen – unbestreitbar und durch eine Vielzahl an Evidenzen belegt – den Goldstandard für eine optimale Säuglingsernährung darstellt, werden noch immer weniger als 50 % aller Babys weltweit 6 Monate ausschließlich gestillt. Seit Jahren stagnieren die Bemühungen verschiedenster Organisationen, die Stillraten zu verbessern, während zugleich die Säuglingsnahrungsindustrie Jahr für Jahr Rekordgewinne meldet.

Im Frühjahr 2022 hatte ein umfangreicher → Bericht der WHO zum wiederholten Male die Marketingstrategien der Säuglingsnahrungshersteller kritisiert. Auch die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde DGKJ beklagte im Sommer 2022 in ihrem → Positionspapier, dass Formula-Hersteller mit irreführenden und unzulässigen Aussagen zu den Inhaltsstoffen ihrer Produkte werben.

Eine aktuelle Artikel-Serie in der renommierten Fachzeitschrift The Lancet zeigt nun erneut detaiiliert auf, welch riesige Summen der Markt für Muttermilch-Ersatzprodukte darstellt und welche Taktiken die Hersteller anwenden, um junge Familien zum Kauf ihrer Produkte zu bewegen. Auch die deutschsprachige Tagespresse berichtete Anfang Februar 2023 über diese Artikel-Serie: → Der Spiegel, → Euractiv, → Science Media Center Germany

Erfolgreich Stillen zu können, wird oft als individuelles Problem betrachtet – Mütter glauben, dass ihr Körper, ihre Brüste oder ihre persönlichen Bemühungen dafür verantwortlich sind, ob das Stillen gelingt oder nicht. Studien zeigen jedoch deutlich, dass die Ursachen für niedrige Stillraten überwiegend systemischer Natur sind:
- Veraltetes oder nicht ausreichendes Wissen von Fachkräften, die Schwangere und Mütter im Wochenbett begleiten und beraten, stellt eine hohe Hürde dar. Tradierte Praktiken oder Überzeugungen sind häufig falsch ("die ersten Tage kommt ja sowieso noch keine Milch") und können den Stillerfolg gefährden.
- Gesetzgebung zum Mutterschutz/Elternzeit sowie zu bezahlten Still-/Pump-Pausen ist von Bedeutung – dort, wo längere bezahlte Mutterschutz-Zeiten existieren, sind die Stillraten besser.
- Systematische Benachteiligung von Frauen am Arbeitsmarkt und geringe politische Repräsentation führen gemeinsam mit der aktiven Arbeit von Lobbyisten der Säuglingsnahrungsindustrie regelmäßig zur Verhinderung oder Abschwächung von Gesetzgebungen, die Schwangerschaft und Stillzeit besonders schützen sollen.

Die Säuglingsnahrungsindustrie behauptet regelmäßig (subtil oder ganz offen), dass Formula-Nahrung der Muttermilch gleichgestellt wäre oder zumindest "ganz nah dran" – was ohne jeden Zweifel nicht der Fall ist. Auch die beste künstliche Säuglingsnahrung kann in keinem Fall das dynamische, lebendige System von Angebot und Nachfrage und sich anpassenden Immun- und Inhaltsstoffen der Muttermilch nachahmen. Die außergewöhnlichen und durch nichts zu ersetzenden Eigenschaften des Kolostrums werden weltweit noch immer viel zu selten betont und rund die Hälfte der Neugeborenen wird nicht zum frühen Stillen innerhalb der ersten Lebensstunde nach Geburt ermutigt.

Besonders fatal: normales Verhalten von Neugeborenen, die einen hohen Bedarf nach Körperkontakt haben, häufig nur sehr kurze Schlafphasen aufweisen, rasch nach dem Stillen erneut unruhig werden und/oder sehr viel Zeit an der Brust verbringen, wird häufig als Zeichen von "zu wenig Milch" interpretiert (lesen Sie dazu auch unsere → Fachseite "Zu wenig Milch"). Die Formula-Industrie unterstützt diese Wahrnehmung durch subtile Aussagen in Informationsbroschüren oder durch Beiträge in Fachzeitschriften und Schulungen für Fachpersonal. Influencer:innen auf Social Media Kanälen berichten davon, wie "anstrengend" das Leben mit ihrem Stillbaby war und wie zufrieden es nun ist, seit es endlich satt wird – dank Formula-Nahrung. Nicht selten wird explizit damit geworben, dass "Anti-Kolik-Nahrung" oder "Gute-Nacht-Nahrung" dafür sorgen soll, dass Babys seltener weinen und länger schlafen. Begriffe wie "sanft", "für guten Schlaf", "für gesundes Wachstum", "für eine gute Verdauung" usw. lassen den Eindruck entstehen, die Nahrung wäre besonders geeignet zur Linderung der Beschwerden des Babys und würde zugleich seine Entwicklung fördern. Wort-Konstruktionen wie "Opti-Nutrition", "Gold-Science", "Premium-Milch" oder ähnliche Wendungen vermitteln das Gefühl, dass diese Nahrungen auf dem aktuellsten Stand der Wissenschaft unter höchster Qualität entwickelt werden und daher der Muttermilch ebenbürtig sind.

Ein beliebtes Marketinginstrument, das Hersteller nutzen um gesetzliche Werbeverbote zu umgehen, ist die Einteilung ihrer Nahrung in verschiedene Altersgruppen und die Ausstattung aller Varianten mit demselben Design und Branding. Dort, wo die Werbung für Säuglinge unter 6 Monaten verboten ist, werben die Hersteller einfach für die nächsthöhere Altersgruppe mit glücklich lächelnden Müttern, friedlich schlafenden Babys sowie Tabellen, die nach wissenschaftlichen Aussagen aussehen – und verankern so das Aussehen der Produkte und den Markennamen im Gedächtnis der Gesellschaft. Wer anschließend am Regal für Säuglingsnahrungen vorbeigeht, erkennt sofort auch das Produkt für die Säuglinge unter 6 Monaten, obwohl niemals Werbung dafür gemacht wurde.
Auch Produkte für Schwangere und stillende Mütter werden mit demselben Design von Formula-Herstellern vermarktet – die Bindung an die Marke, der Aufbau von Vertrauen zu einem bestimmten Hersteller ist das Ziel. Gleichzeitig bietet sich hier erneut die Gelegenheit für subtile Botschaften: "Stillen ist kompliziert, man muss sich große Mühe geben, damit die Milch reicht – dazu benötigt es spezielle Nahrungsergänzungen und am besten beginnt man schon in der Schwangerschaft, sich vorzubereiten, um überhaupt eine Chance zu haben, dass es klappt".

Nicht nur Eltern werden umworben, auch Gesundheitspersonal gehört zu den Zielgruppen für Formula-Hersteller. Kongresse und Seminare werden gesponsort, Werbung in Fachzeitschriften verspricht "wissenschaftliche Erkenntnisse" und bezahlte Artikel, die aussehen wie journalistisch neutrale Texte, gehören zum Standard-Programm.
Kleine Werbegeschenke für die Wochenstation (Kugelschreiber, Namensschildchen, Kaffeetassen etc.) sind ebenso Bestandteil der Strategie wie "Informationsbroschüren" für Mütter, Poster mit Stillpositionen (und dem Marken-Logo gut sichtbar in der Ecke platziert) oder kostenlose Probepackungen für Kinderarzt-Praxen.
Der Aufbau von persönlichen Bindungen und Beziehungen rundet das Bild ab: Besuche von Vertretern der Hersteller in Arzt-Praxen und Kliniken sind z.B. in den USA äußerst verbreitet, wie eine aktuelle weitere → Studie zeigt.

Die Lancet-Serie listet noch viele weitere relevante Erkenntnisse auf und schlägt zudem konkrete politische Maßnahmen vor, die zu einer strengeren Gesetzgebung und Regulierung der Säuglingsnahrungshersteller führen könnten.

Die gesamte → Artikel-Serie ist im open access Verfahren veröffentlicht und somit frei zugänglich. Eine kurze, übersichtliche → Infografik fasst die wichtigsten Punkte zusammen und sollte in jeder Gesundheitseinrichtung und gesetzgebenden Stelle in den nächsten Monaten diskutiert werden.

© Februar 2023, Anja Bier, IBCLC
und das EISL-Newsletter-Team:
Rhiannon Grill, IBCLC; Natalie Groiss, IBCLC; Gabriele Nindl, IBCLC; Gudrun von der Ohe, IBCLC

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